Inwiefern sind die gesundheitlichen Beratungen nach § 10 ProstSchG geeignet, um Situationen von Zwang oder Gewalt zu äußern? In wie vielen Beratungen wurden diese Themen benannt?  

Laut § 10 ProstSchG soll die zu beratende Person im Rahmen der gesundheitlichen Beratung die Gelegenheit erhalten, „eine etwaig bestehende Zwangslage und Notlage zu offenbaren“. In der Arbeitspraxis hat sich jedoch gezeigt, dass Themen wie Zwang oder Gewalterfahrungen in diesem Kontext sehr selten geäußert werden. Die gesundheitliche Beratung nach § 10 ProstSchG ist eine Pflichtberatung. Sexarbeitende kommen in diese Beratung mit der Erwartung, die für die Anmeldung nach § 3 ProstSchG benötigte Bescheinigung zu erhalten um in der Sexarbeit tätig sein zu dürfen.
Von Oktober bis Dezember 2018 wurden keine Gewalterfahrungen bzw. Zwang bekannt. 2019 wurde Zwang bzw. Zuhälterei in drei Fällen thematisiert. In weiteren sechs Fällen wurden Gewalterfahrungen benannt. Im ersten Quartal 2020 haben vier Sexarbeiterinnen in den Sozialberatungen Zwang bzw. Zuhälterei angesprochen, drei Personen haben von Gewalterfahrungen berichtet.  

Konnten Ausstiege aus der Sexarbeiter*innenszene durch weiterführende Angebote realisiert werden? Wenn ja, wie viele seit Umsetzung des Gesetzes in Leipzig?  

Ja, bisher wurden sieben Ausstiege in Leipzig begleitet. Vier erfolgten in Zusammenarbeit mit KOBRAnet (Sächsische Fachberatungsstelle für Opfer von Menschenhandel) und der Polizei, ein Ausstieg erfolgte in Kooperation mit einer Migrationsberatungsstelle. Zwei Sexarbeiterinnen konnten ohne weiterführende Angebote ihren Ausstieg realisieren. Alle diese Ausstiege erfolgten im Kontext der Beratungen nach § 9 ProstSchG.  

Welche Maßnahmen wurden durch die Behörden getroffen, um dem Schutzauftrag zu entsprechen?  

Um dem Schutzauftrag nach §§ 9 und 10 ProstSchG nachzukommen, hat das Gesundheitsamt folgende Maßnahmen getroffen:

  • Beratungen werden durch die Sozialarbeiterinnen in den Sprachen Deutsch, Englisch und Rumänisch angeboten. Alle weiteren Sprachen werden durch Sprachmittlung (Videodolmetschen) kostenfrei zur Verfügung gestellt.
  • Im Zeitraum September 2018 bis März 2020 haben 615Sozialberatungen nach § 9 ProstSchG stattgefunden.
  • Seit Mai 2019 findet an den Arbeitsorten der Sexarbeitenden aufsuchende Sozialarbeit nach § 24 Abs. 3 ProstSchG statt. Im Zeitraum Mai 2019 bis Anfang April 2020 wurden 773 Kontakte im Rahmen der aufsuchenden Sozialarbeit dokumentiert.
  • Seit 2018 wurden durch die Sozialarbeiterinnen 19 Begleitungen zu Ärzten durchgeführt.
  • Kooperationen zu Netzwerkpartner/-innen sind für die Vermittlung von Klient/-innen zu weiterführenden Angeboten von besonderer Bedeutung. Diese sind bei erhöhtem Hilfebedarf aufgrund sozialer oder gesundheitlicher Notlagen bei einzelnen Sexarbeitenden erforderlich. Neben der Erweiterung des Unterstützungsangebotes konnten auf diesem Wege unter anderem Zugänge zu medizinischer Versorgung, sicherer Unterkunft oder mehr Information geschaffen werden. Die Hauptkooperationspartner/-innen sind Schwangerenberatungsstellen, KOBRAnet, Arztpraxen (hauptsächlich Gynäkologie und Zahnheilkunde), Migrationsberatungsstellen, Polizei (Kommissariat 24), Fachberatung Sexarbeit Leila (aidshilfe leipzig), Sachgebiet Straßensozialarbeit, Frauenhaus, CABL e.V. und Medinetz Leipzig, Rosa Linde, das Ordnungsamt und das Finanzamt.
  • Kriseninterventionen wurden in drei Fällen erforderlich. Eine der betreuten Personen wurde intensiv über mehrere Wochen vom Gesundheitsamt begleitet.  

Das Ordnungsamt erfüllt den Schutzauftrag entsprechend § 7 ProstSchG und berät vor Anmeldung insbesondere zur Rechtslage im Kontext Prostitutionsausübung, zu Absicherung im Krankheitsfall bzw. soziale Absicherung, zu Beratungsangeboten (gesundheitliche/soziale Angebote und Beratungsangebote zur Schwangerschaft), zu Hilfe in Notsituationen und zur Steuerpflicht. Diese Beratungen werden für Personen, die kein Deutsch sprechen über Videodolmetschen in der jeweiligen Muttersprache geführt.

Wie hoch schätzt die Stadt Leipzig den Beratungsbedarf ein?

Mit den Beratungen nach § 10 ProstSchG wird lediglich ein Teil der Sexarbeitenden erreicht. Bei Sexarbeitenden, die folgenden Gruppen angehören, geht die Stadt Leipzig ebenfalls von Beratungsbedarf aus. Nicht über das ProstSchG erreicht werden Sexarbeitende bei denen es sich um Geflüchtete, Personen mit fehlender Arbeits-/Aufenthaltserlaubnis, männliche Sexarbeiter, Sexarbeiter/-innen aus Asien und Personen, die aufgrund von Drogenkonsum Sexarbeit anbieten, handelt. Zusätzlich stellt die Angst, dass durch die Anmeldung nach ProstSchG die Tätigkeit in der Sexarbeit bekannt wird, eine große Hemmschwelle dar, die Beratung aufzusuchen.  

Wie viele Beratungen wurden seit 2018 durchgeführt (bitte in Jahresscheiben)?

Gesundheitliche Beratungen nach § 10 ProstSchG:
– 2018 (Sep. bis Dez.):  176 Beratungen
– 2019:     510 Beratungen
– 2020 (1. Quartal):   120 Beratungen  

Die Zahl der angefragten Termine ist deutlich höher. Trotz sehr kurzfristiger Terminierung (häufig am nächsten Tag) wurden insgesamt 559 vereinbarte Termine nicht wahrgenommen.  

Vorgehaltene und nicht wahrgenommene Termine:
– 2018 (Sep. bis Dez.):  254 Termine
– 2019:     241 Termine
– 2020 (1. Quartal):    64 Termine  

Zusätzlich zu den gesundheitlichen Beratungen nach § 10 ProstSchG werden bei Bedarf gemäß § 9 ProstSchG Sozialberatungen und Vermittlungen zu weiteren Hilfsangeboten durchgeführt. Der Bedarf an diesen Beratungen ergibt sich aus den Pflichtberatungen (Erst- bzw. Folgeberatungen). Die Sozialberatungen nach § 9 ProstSchG dienen der Bearbeitung von Themen wie Zwang, Gewalt und anderen persönlichen Problemen. Sie sind freiwillig und anonym.  

Sozialberatungen nach § 9 ProstSchG:
– 2018 (Sep. bis Dez.):  keine Beratungen
– 2019:     508 Beratungen
– 2020 (1. Quartal):   106 Beratungen

2018 fanden aufgrund von fehlender Nachfrage keine Sozialberatungen statt.  

Wie viele Beratungen sind das im Vergleich zu anderen sächsischen Städten?

Sexarbeit in Sachsen ist in folgenden Städten erlaubt: Dresden, Leipzig, Chemnitz, Zwickau, Plauen, Görlitz. Laut Statistischem Bundesamt waren am 31.12.2018 in Sachsen 666 Sexarbeitende angemeldet (Stand 26.11.2019). Aktuellere Zahlen liegen derzeit nicht vor. Auch eine Aufschlüsselung nach Städten steht nicht zur Verfügung.  

Wie oft wurden Unterstützungsangebote in Anspruch genommen, kam es hierbei auch zur Verweigerung von Unterstützung seitens Behörden?

Die Inanspruchnahme der Unterstützungsangebote (z.B. Begleitung bei Schwangerschaftsabbruch, Adoption, Vermittlung an Frauenhäuser, Organisation für Rückfahrten in Heimatländer, Bereitstellung von Übernachtungsmöglichkeiten gestrandeter Prostituierten) wird nicht statistisch erfasst. Es sind keine Fälle bekannt, in denen andere Behörden (z.B. Ordnungsamt, Polizei, Sozialamt) die Unterstützung verweigert hätten.

Welche Erkenntnisse aus den Beratungsgesprächen mit Sexarbeiter*innen sind bisher zur Verbesserung der Unterstützungsmaßnahmen genutzt worden? Sind überhaupt Erkenntnisse in Verbesserungsmaßnahmen genutzt worden?

Neben den vorgeschriebenen Inhalten der gesundheitlichen Beratung nach § 10 ProstSchG (Krankheitsverhütung, Empfängnisregelung und Schwangerschaft, Risiken des Alkohol-  und Drogengebrauchs), werden unter anderem Fragen der Intimhygiene, Gewaltprävention, Arbeitsrecht, Steuern, Umgang mit Freiern, sowie KO-Tropfen angesprochen. Die Schwerpunkte im Gespräch werden den jeweiligen individuellen Bedürfnissen angepasst. Belange und Anliegen der Sexarbeiter/-innen werden ernst genommen. Wenn Themen der Sexarbeitenden (die von Seiten der Sexarbeitenden in das Beratungsgespräch eingebracht werden) für die gesamte Gruppe von Bedeutung sind, werden diese in die Beratungsinhalte für alle aufgenommen. Aktuelle Informationen aus der Sexarbeitsszene von allgemeiner Relevanz werden ebenfalls in den Beratungen weitergegeben. So wurden zum Beispiel im Sommer 2019 viele Sexarbeitende mit Falschgeld bezahlt. Als Reaktion darauf wurden die Sexarbeiter/-innen und Betreiber/-innen über diese Vorfälle informiert und in den Beratungen das Erkennen von Falschgeld thematisiert.   Eine Verbesserung der Unterstützungsmaßnahmen konnte mit Beginn der aufsuchenden Sozialarbeit nach § 24 Abs. 3 ProstSchG im Mai 2019 erreicht werden. Einmal pro Woche werden Sexarbeitende an ihrem Arbeitsort (Terminwohnung, Bordell, Laufhaus, FKK Saunaclub) aufgesucht und über Unterstützungsmöglichkeiten informiert. Die Beraterinnen stehen für Fragen zur Verfügung, verteilen Hygieneartikel und knüpfen bzw. festigen bereits bestehende Kontakte. Als unmittelbaren Effekt der aufsuchenden Sozialarbeit zeigte sich zum Beispiel, dass die Anzahl der nicht wahrgenommenen Beratungstermine rückläufig war. Die persönlichen Kontakte helfen beim Abbau von Ängsten und erleichtern insgesamt den Zugang zur Behörde. Die aufsuchende Arbeit ermöglicht zudem einen direkten und zeitnahen Zugang zu aktuellen Informationen und Geschehen in der Sexarbeitsszene, die wiederum in nachfolgenden Beratungen Berücksichtigung finden (können).

Mit wie vielen Stellen, bitte als VZÄ aufschlüsseln, in welchen Behörden und welcher Funktion nimmt die Stadt Leipzig den Auftrag zur Umsetzung desProstSchG wahr?

Ausgehend von den Schätzungen des Freistaates Sachsen bezüglich der zu erwartenden Fallzahlen bei der Umsetzung des ProstSchG wurden im Stellenplan 2019/2020 folgende Stellen befristet bis 31.12.2020 eingerichtet:

– 3,6 VzÄ Sozialarbeiter/in Gesundheitsamt  
– 0,9 VzÄ Bürokraft  Gesundheitsamt  
– 2,1 VzÄ Sachbearbeiter/in Ordnungsamt  

Die Stellen wurden auf Grund der bestehenden Unsicherheiten hinsichtlich der zu erwartenden Fallzahlen anteilig besetzt:

– 1,6 VzÄ Sozialarbeiter/in ab 01.09.2018  
– 0,9 VzÄ Bürokraft  ab 01.09.2018  
– 1,0 VzÄ Sachbearbeiter/in ab 01.10.2018  

Mit welchen Stellenplanungen geht die Stadt Leipzig in den nächsten Haushalt und wie ist die Finanzierung abgesichert?

Auf der Grundlage der in der zurückliegenden Zeit gewonnenen Kenntnisse und Erfahrungen sollen für den Entwurf des Stellenplans 2021/2022 angemeldet werden:

2,0 VzÄ Sozialarbeiter/in Gesundheitsamt
1,0 VzÄ Sachbearbeiter/in  Ordnungsamt  

Die Finanzierung erfolgt entsprechend § 5 SächsProstSchGAG über einen Mehrbe-lastungsausgleich durch den Freistaat Sachsen.  

Ist das Beratungsangebot im Gesundheitsamt inzwischen über das Jahr 2020 hinaus abgesichert? Wenn nein, wie sehen die konkreten Planungen aus?  

Der Fortbestand des Beratungsangebotes ist seit Vorliegen des Zuweisungsbescheides der Landesdirektion für 2020 vom 05.05.2020 nicht vollständig gesichert. Für die derzeitige Besetzung der Beratungsstellen in Ordnungsamt und Gesundheitsamt belaufen sich die Kosten in 2020 auf 353.000 Euro. Laut Zuweisungsbescheid erhält die Stadt Leipzig für 2020 nur 110.000 Euro. Damit kann Arbeitsfähigkeit nicht gewährleistet werden. Die Stadt Leipzig zweifelt die Berechnungsgrundlagen des SMS an und beabsichtigt deshalb Widerspruch einzulegen. Über das Jahr 2020 hinaus kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch keine Aussage getroffen werden.

Zusatzfragen zur aktuellen Corona-Krise

Welchen Zugang haben Sexarbeiter*innen in Leipzig aktuell zur Gesundheitsversorgung im Allgemeinen?

Der Zugang zur Gesundheitsversorgung ist abhängig vom Krankenver­sicherungs­status. Ein Teil dieser Sexarbeitenden aus dem Ausland (ca. 70% der Sexarbeitenden) ist im EU-Herkunftsland krankenversichert, allerdings fehlt häufig die europäische Krankenversicherungskarte, welche Voraussetzung für die Kostenübernahme einer medizinischen Behandlung ist. Ein weiterer Teil der Sexarbeitenden hat keine Krankenversicherung. In beiden Fällen besteht kein regulärer Zugang zur medizinischen Versorgung, außer in lebensbedrohlichen Situationen.   Personen mit einer in Deutschland gültigen Krankenversicherung haben Zugang zum Gesundheitssystem, allerdings können sie aufgrund ihrer Tätigkeit von Stigmatisierung und Diskriminierung betroffen sein. In diesem Zusammenhang sind die kostenfreien und anonymen Angebote nach §19 Infektionsschutzgesetz des Gesundheitsamtes besonders relevant.   Aufgrund der Corona-Pandemie sind die Beratungsstellen für sexuell übertragbare Krankheiten und AIDS (nach § 19 Infektionsschutzgesetz) sowie die Beratungsstelle für Sexarbeiter/-innen nach §10 ProstSchG derzeit geschlossen. Beratungen bzw. Untersuchungen nach § 19 Infektionsschutzgesetz sind ab Juni 2020 mit vorheriger Terminabsprache und unter den geltenden Hygieneauflagen wieder vor Ort möglich. Beratungen für Sexarbeiter/-innen nach § 10 ProstSchG werden wieder angeboten, sobald das Verbot von Prostitution durch den Freistaat aufgehoben wird. Alle unaufschiebbaren Beratungen wurden bei Bedarf bereits in den letzten Wochen durchgeführt.  

Im Falle einer COVID-19-Erkrankung:

Das Vorgehen bei einer COVID-19-Erkrankung bei Sexarbeitenden unterscheidet sich nicht vom Vorgehen bei anderen Personen mit einer COVID-19-Erkrankung. Für nicht versicherte Personen muss für die Klärung der Kostenübernahme der Verein CABL e. V. einbezogen werden (Clearing­stelle und anonymer Behandlungsschein Leipzig e.V.).  

Welchen Einfluss haben die §§ 4 und 8 der Sächsischen Corona-Schutz-Verordnung (SächsCoronaSchVO) vom 17.04.2020 (Schließung von Prostitutionsstätten, Untersagung von Veranstaltungen und Vermittlung von Prostitution) auf die aktuelle Situation der Sexarbeitenden in Leipzig?

Nach § 5 der Sächsischen Corona-Schutz-Verordnung (SächsCoronaSchVO) vom 12.05.2020 bleibt der Betrieb von Prostitutionsstätten, -veranstaltungen und -vermittlung weiterhin untersagt, so wie bereits in den §§ 4 und 8 SächsCoronaSchVO vom 17.04.2020 und in § 5 der SächsCoronaSchVO vom 04.05.2020 angeordnet.   Eine derzeit illegale Ausübung von Sexarbeit ist wahrscheinlich, da Foreneinträge der Freier und Werbeanzeigen der Sexarbeiter/-innen im Internet weiter geschaltet sind. Im Kontext von Illegalität finden auch Gewalt, Ausbeutung, Zwang und fehlende Bezahlung statt, diesbezügliche Erfahrungen wurden dem Gesundheitsamt aber während der Aussetzung der Gesundheitsberatungen nach §10 ProstSchG nicht bekannt.