Redner: Gerhard Pötzsch, Stellv. Fraktionsvorsitzender

Es gilt das gesprochene Wort!

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
sehr geehrte Damen und Herren Stadträte,
werte Gäste!

Jeder von uns weiß wahrscheinlich, wie er gleich votieren wird. Ich will versuchen zu erklären, warum nun ausgerechnet ich nicht für die heutige Vorlage stimme.
Dazu muss ich ein bisschen von mir reden und etwas zurück blicken:
– auf den 31. Oktober 1965 etwa, als ich mich, in meinem fünfzehnten Jahr, auf dem Leuschnerplatz gegen das Beatverbot einfand, meine erste Demo, dann kam der Wasserwerfer
– auf den 30. Mai 1968, als ich, nun schon sechzehn, auf dem Karl-Marx-Platz gegen die Sprengung der Universitätskirche stand. Ich war und werde wahrscheinlich nie religiös. Aber schon damals galt mir: Kulturschande bleibt Kulturschande
– auf den, dem Frühling folgenden Sommer des gleichen Jahres, als abzusehen war, dass sich in Prag der Traum vom menschlichen Sozialismus wieder nicht erfüllen würde

Dann wollte ich mit Freunden nur noch weg. Die Welt war so groß und Leipzig so klein. Wir sind den verbündeten Truppen des Warschauer Paktes quasi in den Angriff gelaufen.
Mein komplettes siebzehntes Lebensjahr saß ich im Knast. Ich musste dort, im Namen des Volkes, einmal einundzwanzig Tage und Nächte Dunkelarrest am Stück verbringen. Seitdem weiß ich, wie Freiheit schmecken kann.
An diesem Ort beschloss ich: DIE haben dich nicht gehen lassen, nun müssen DIE dich aushalten!
Nach meiner Entlassung habe ich mich der Zusammenarbeit mit diversen staatlichen Organen verweigert, und mir vorgelegte Papiere nicht unterschrieben. Das war nicht natürlich, sondern schwer! Andere sind in ähnlichen Situationen schwach geworden. Ich kann das verstehen.
Mein Traum von einem demokratischen Sozialismus ist bis heute uneingelöst geblieben.

Mit dem Herbst 89 verbinde ich Erstaunen, Euphorie, Glück, Stolz und das besoffen machende Gefühl totaler Freiheit. Was folgte, waren herrliche Monate der Anarchie. Alles war möglich. Ich bin sehr dankbar, das erlebt zu haben!
Die Ernüchterung folgte bald. Buchhalter buchten. Ordnungspolitiker ordneten. Verwaltungsfachleute verwalteten. Notare schrieben geschwind. Zwischendrin sah ich mit achtunddreißig Jahren das erste Mal Ebbe und Flut und huschte kurz nach Paris. Dieses abarbeitende Reisen hat mich nicht mehr so verändert, wie es mich als siebzehn- oder neunzehnjährigen Neugierigen sicher noch hätte verändern oder prägen können. Mein Zorn über die Verantwortlichen dieser Art unwiederbringlich verlorener Lebenschancen und Möglichkeiten bleibt jung!

Einem geschenkten Gaul schaut  man nicht ins Maul, sagt der Volksmund.
Ist es nun, rund ein Vierteljahrhundert später, an der Zeit, ein Denkmal, das die friedliche Revolution zur Demokratie hin feiert, zu errichten? Eines, das uns auffordert – denk mal! – über Einheit und Freiheit nachzudenken. Oder doch über Freiheit und dann Einheit?
Was ich in den vergangenen zwei beschleunigten Jahrzehnten vermisste, oder was mir, besser gesagt, deutlich zu kurz gekommen scheint, ist das öffentliche Gespräch über unsere unterschiedlichen Biografien in Ost und West, in dem man sich durch Frage und Antwort immer näher verständigen und besser verdeutlichen könnte.

Mir war da zuviel Verdammung, Besserwisserei und nicht selten auch Ignoranz.
Übrigens: wie ich kürzlich lesen musste, sind die Mittel für Zeitzeugen, welche über ihre persönlichen Erfahrungen in einer Diktatur vor Publikum berichten, aktuell auch in Sachsen gekürzt worden.
Freiheit ohne Gleichheit – kann es das geben? Und schließt Gleichheit nicht automatisch Chancengleichheit ein?
Jeder ist seines Glückes Schmied – noch so ein Satz!

 
Das Recht auf eine gerechte Verteilung von Zugangs- und Lebenschancen unabhängig der sozialen Herkunft – nichts als eine Schöne Fata Morgana? Realität in Deutschland heute: eine geschlossene Gesellschaft, in welcher beruflicher Erfolg über Generationen vererbt wird. Die Kluft zwischen arm und reich wächst schneller denn je. Politikverdrossenheit nimmt Demokratie gefährdende Züge an. Demokratie, das wissen wir, kann nur existieren, wenn möglichst viele mitmachen.
 
Vor wenigen Tagen hatten wir sieben Schulsozialarbeiterinnen in der Fraktion zu Gast, die aus ihrer täglichen Arbeit an unseren Grundschulen, Mittelschulen und Gymnasien berichteten. Ihr Bericht war, um es mit einem Wort zu sagen: erschütternd!
Sollten wir, bevor wir uns ein Denkmal schenken lassen, nicht erst noch ein paar Hausaufgaben erledigen und z.B. gemeinsam die Bundesrepublik verändern?

Die Idee, das neue Jahrtausend mit einer Nachbildung der Dauthe‘schen Säule als in den Stadtraum „freigelassene“ Friedenssäule vor der protestantischen Nikolaikirche in Erinnerung an 89 zu begrüßen, fand ich würdig, poetisch und dem zu erinnernden Ereignis sehr angemessen.
Bald werden wir nun in Leipzig auch mittels eines neuen Denkmals die Bewegung zur Demokratie hin erneut feiern. Wir werden es gegen den gefühlten Willen einer Bevölkerungsmehrheit errichtet haben. Wir werden zu seiner Weihe in Reden die Historie bemühen, dem Zeitgeist frönen, das Stadtmarketing befeuern und dabei immer wieder die Absicht betonen, damit in einer nachwachsenden Generation den Geist von 89 wach halten zu wollen. Und vielleicht, so grotesk kann Geschichte verlaufen, ist an jenem Tag sogar jener Funktionär einer ehemaligen Blockpartei anwesend, der heute, in neuer Funktion, die erste Flöte im Lande spielt. Ob das dann noch jemand des Erwähnens für wert befindet?
Ob nun ohne oder mit Denkmal, ich wünsche uns allen für die Gestaltung der Zukunft Vernunft, Augenmaß und Glück!