Redner: Gerhard Pötzsch, Stellv. Vorsitzender der SPD-Fraktion

Es gilt das gesprochene Wort!

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
werte Kolleginnen und Kollegen Stadträte,
sehr geehrte Gäste!

Bevor ich zu Vorlage komme, gestatten Sie mir eine kurze Replik auf das vergangene Wochenende. Ich meine, beides hat tatsächlich miteinander zu tun.
Für das höchste Amt, welches in der Stadt zu vergeben ist, stand ein 2. Wahlgang an. Es gab einen Sieger, dem zu gratulieren ist. Es gab Unterlegene. So geht das. Anschließend wurde reihum gefeiert. Niemand schien vom Ausgang wirklich überrascht. Alles war eigentlich wie immer nach solchen Anlässen.

Fakt ist:
Dirk Feiertag wählten 98,2 %  der Wahlberechtigten nicht. Felix Ekardt wurde von 97,6 % der Wahlberechtigten nicht gewählt. Dr. Barbara Höll erhielt von 95,2 % der Wahlberechtigten keine Stimme. Horst Wawrzynski verweigerten 90,2 % der Wahlberechtigten ihre Stimme. Burkhard Jung wurde ohne die Zustimmung von 84,7 % der Wahlberechtigten im Amt bestätigt.
Ich rede hier von der OBM-Wahl in Leipzig. Jener Stadt, in der vor einem knappen Vierteljahrhundert zehntausende Menschen mutig für freie Wahlen um den Ring  gezogen sind. Und ich frage ganz ernsthaft: Was haben wir alle miteinander nicht richtig gemacht?

Zur Vorlage: Zielstellung ist, den Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit zu bieten, sich direkt über die Debatten im Stadtrat sowohl live als auch im Nachgang von Ratsversammlungen zu informieren. Das Zauberwort heißt: Transparenz. Und scheinbar bietet die moderne Technik dazu endlich auch die herbeigesehnten und immer perfekter werdenden Möglichkeiten. Die Antragsteller, das will ich ihnen zu Gute halten, verbinden damit wahrscheinlich die ehrliche Hoffnung, durch solcherart intime Einblicke in die Kommunalpolitik für alle und jeden, das öffentliche Interesse an ihr zu befördern und zu stärken.
Das Vertrauen in die – das betone ich ausdrücklich – demokratisch legitimierten Akteure von Politik, und sei es auf  Stadtratsebene, scheint den Initiatoren dieser Anträge mittlerweile jedoch so schwer beschädigt zu sein, dass sie in ihrer Hilflosigkeit und Not mit derartigen Ideen  reagieren.
Begegnet man schwindendem Vertrauen mit einer Bestärkung des Misstrauens?
Keine Mauscheleien, keine Machenschaften, keine Mogeleien, keine stillen Absprachen, keine geheimen Netzwerke mehr! Offenheit ist angesagt – Transparenz… kurzum: die Kontrolle der Macht!

Das klingt erst einmal gut.                                                                                         
Ironischerweise sind es oft die gleichen Personen, die so etwas einfordern, welche ansonsten keineswegs leichtfertig etwa einem Überwachungsstaat das Wort reden würden. Einer Beobachtung und Informationserhebung der Art: Wir fordern noch mehr Kameras zur Verbrechensprävention im öffentlichen Raum! Datensammlung und Datenspeicherung über Bürger forcieren! Kontrollen des Internets verschärfen!
Nur, den demokratisch legitimierten Vertretern der Bürgerschaft muten sie dies  – zumindest für die Zeit ihrer Arbeit im Interesse derselben – als völlig selbstverständlich zu! Auf welcher sicheren Rechtsgrundlage? Und: Wer kontrolliert die Kontrolleure?                                                      
Lähmt ein dann solchermaßen gläsern gewordener Rat nicht die Risikobereitschaft hier am Pult neue Ideen anzusprechen, und ihr Pro und Contra eventuell sogar gemeinsam zu wägen?
Muss man dann wirklich nicht befürchten, sich, mit aus dem Zusammenhang gerissenen Sätzen, umgehend in der Web-Welt verantworten zu müssen?
Erleben wir hier fürderhin nur noch politisch korrektes Politiker Blabla? Gerichtet an die Besucher der dann in die unendliche Netzwelt erweiterten Balustrade? Und, vor irgendwie ja ständig anstehenden Wahlen, natürlich auch immer gern angehübscht mit flockigen Unterhaltungselementen für die Gildenglieder der Netzgemeinde….                                                                   
Welche, wie übrigens heute schon, wahrscheinlich auch in der Zukunft  mehrheitlich aus gut gebildeten, mittelalterlichen und sozial abgesicherten Wutbürgern bestehen werden…

Was für kulturelle Veränderungen bewirken wir eigentlich mit dem sukzessiven Wandel von der heutigen repräsentativen Demokratie hin zu Elementen netzgestützter direkter Demokratie?
Überschauen wir schon diese Dimension?
Was treten wir denn gegebenenfalls heute wirklich los, wenn wir mit dieser unscheinbaren Vorlage einen ersten Schritt in diese Richtung tun, und einfach mal so zustimmen? Haben wir darüber schon gründlich genug nachgedacht?
Ich höre jetzt förmlich die Vorwürfe: das ist doch Unsinn, aufgebauschte Bedenken, Mutlosigkeit, störrisches Verharren bei Althergebrachten…
Sei‘s drum!

Vielleicht haben wir in der Vergangenheit zu oft den Eindruck zu erwecken versucht: Wir hier wissen wie‘s geht! Wir hier kennen die Lösung!
Vielleicht hat uns genau das so viel Vertrauen gekostet?
Wir sollten, und ich denke wir müssen den Bürgern ab sofort noch viel öfter sagen, dass sie selbst die verfluchte Pflicht und Schuldigkeit haben, aufzustehen, das Maul aufzureißen und gefälligst  mitzumachen  in der Demokratie!
Für mich ist mein heutiges Leben in dieser politischen Ordnung immer noch erstaunlich und neu. Es ist das freieste, was ich bisher gelebt habe!
Aber ich weiß auch: Demokratie wird nie perfekt funktionieren. Sie wird von Menschen gemacht.
Die Vorlage lehne ich ab.