Rede zum Antrag „Würdiges Gedenken an die deutsche Reichsgründung vor 150 Jahren“ in der Ratsversammlung am 20./21.1.2021
Redner: Christopher Zenker, Fraktionsvorsitzender
Es gilt das gesprochen Wort!
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
sehr geehrte Beigeordnete,
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
die AfD fordert in ihrem Antrag ein „würdiges Gedenken an die deutsche Reichsgründung 1871“. Wie sie dies umgesetzt wissen will, lässt sie zwar offen, wird aber nicht müde, die Errungenschaften des Kaiserreichs zu betonen. Mich beschleicht nur das dumpfe Gefühl, dass sie bei der Einreichung des Antrags immer noch beeindruckt waren von den Reichskriegsflaggen bei der zum Glück letztendlich vehinderten Erstürmung des Bundestages durch ihre ideologischen Unterstützer:innen und es ihnen letztendlich nur darum geht, dass vor dem Rathaus die Reichflagge gehisst wird. Soweit vorab, ein unreflektiertes Geschichtsverklärendes Gedenken wird es mit uns nicht geben.
Ich möchte nicht in Abrede stellen, dass die Gründung des Deutschen Reiches 1871 selbstverständlich eine Zäsur in unserer nationalen wie auch regionalen und lokalen Geschichte darstellte; dass sie natürlich auch verbunden war mit wegweisenden Neuerungen in Wissenschaft, Technik und anderen Bereichen, wie dies auch ausdrücklich im Verwaltungsstandpunkt noch einmal dargelegt wird.
Nichtsdestotrotz sollten wir hier aber nicht außen vorlassen, dass das Deutsche Reich aus drei blutigen Kriegen – 1864, 1866 und nicht zuletzt 1870/71 – hervorging, und mit seinem Weltmachtstreben, seinem vollkommen übersteigerten Nationalismus und seiner regelrechten Kriegseuphorie den ersten Weltkrieg maßgeblich mitverantwortete und dadurch zahllose Menschen ins Unglück stürzte.
Einige Punkte aus Ihrem Antrag möchte ich deswegen nochmal kurz näher beleuchten:
- Sie schreiben, trotz seiner Gründung „von oben“ sei das Kaiserreich ein moderner Rechtsstaat mit einer modernen Verfassung gewesen.
Was die Verfassung des Kaiserreichs betrifft: Zum Einen wäre diese ohne den Entwurf der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49 nicht denkbar gewesen – diese wiederum lehnte Bismarck aber ab –, zum anderen fußt unser bundesdeutsches Grundgesetz zurecht auf den Erfahrungen der Weimarer Verfassung von 1919, die die Republik und eben nicht wie 1871 die konstitutionelle Monarchie zur Staatsform etablierte. Es wäre hier also sinnstiftender, eine Linie von 1848/49 – 1919 – 1949 zu ziehen. Und machen wir uns nichts vor: Bismarck hätte den Parlamentarismus, den Sie in Ihrem Antrag loben, doch am liebsten mithilfe desselben wieder abgeschafft.
2. Gelobt wird ferner das Wahlrecht, auch, „wenn es auch zunächst nur für Männer galt“.
Im Vergleich zum vorherigen Drei-Stände-Wahlrecht war das Wahlrecht 1871 sicherlich fortschrittlich. Es war aber eben trotzdem nur für die halbe Gesellschaft gedacht, denn es galt eben nicht nur „zunächst“ nur für Männer, sondern ausschließlich – und das bis zum Ende des Kaiserreichs. Das Frauenwahlrecht wurde u.a. durch die europäische Suffragettenbewegung mühevoll erkämpft, erst Ende 1918 schlussendlich durchgesetzt und in der Weimarer Verfassung verankert.
3. Bismarck wird uns hier als arbeitnehmerfreundlicher Menschenfreund verkauft, seine Bekämpfung des pluralistischen Parteiensystems aber geflissentlich ignoriert.
Ich möchte hier nicht in Abrede stellen, dass die damalige Sozialgesetzgebung Voraussetzung für unser heutiges Sozialversicherungswesen ist. Insbesondere als Sozialdemokrat kann ich hier das Bild vom „Arbeiterfreund“ Bismarck so aber nicht stehen lassen. Immerhin ging es bei der Sozialgesetzgebung einzig und allein darum, das Machtmonopol des Staates zu stärken und die Bevölkerung weg von den Parteien zu bringen. Warum sonst arbeitete sich Bismarck zunächst an linken Arbeiterbewegungen ab, erließ das Sozialistengesetz und setzte sich nach seiner Kampagne gegen die Sozialdemokraten plötzlich für Arbeitnehmerrechte ein? Das Ganze finden Sie übrigens in jedem gängigen Geschichtsbuch unter dem Begriffspaar „Zuckerbrot und Peitsche“, falls Sie es nochmal nachschlagen wollen. Es macht also wenig Sinn, hier nur die halbe Geschichte zu erzählen.
4. Und zu guter Letzt die „Blütezeit im Handel“.
Was meinen Sie damit? Hoffentlich nicht die sogenannten „Entdeckungsfahrten“, die Kolonialisierung und damit verbundene Unterwerfung, Ausbeutung und Zurschaustellung von Menschen aus Übersee?
Die AfD täte gut daran, sich stärker mit der Demokratiegeschichte unseres Landes auseinanderzusetzen, statt rückwärtsgewandt auf großdeutsche Machtphantasien à la Kaiserreich zurückzublicken.
Natürlich kann man der Gründung des Kaiserreichs gedenken – aber bitte in Form einer kritischen Auseinandersetzung mit Militarismus, Nationalismus und Kolonialismus.
Wir schließen uns deswegen dem Verwaltungsstandpunkt an. Uns ist vor allem daran gelegen, den ambivalenten Charakter der Reichsgründung herauszuarbeiten. Wir begrüßen dabei insbesondere die vorgeschlagene Zusammenarbeit mit Akteuren wie dem Institut Francais, um vor allem auch die europäische Dimension mit in die öffentliche Wahrnehmung einfließen zu lassen. Denn schließlich wurde das Deutsche Kaiserreich nach dem Sieg im deutsch-französischen Krieg im Spiegelsaal von Versailles ausgerufen. Natürlich: Ein Affront gegen Frankreich, der aber gleichzeitig die europäische Dimension dieses Ereignisses untermalt.
Um noch kurz auf den Änderungsantrag der CDU einzugehen: Ich bin der Auffassung, dass ihr Änderungsantrag vor allem als Ergänzung zum Verwaltungsstandpunkt Sinn machen würde, indem vor allem die demokratische Tradition, die unser heutiges Deutschland auch aus der für unsere Stadt so prägenden Friedlichen Revolution zieht. Meine Fraktion würde vor diesem Hintergrund ihrem Vorschlag folgen wollen, wenn er denn als Ergänzung des Verwaltungsstandpunktes für Sie denkbar wäre.
Und erlauben Sie mir zum Schluss noch eine kurze Bemerkung, insbesondere an die Kollegen der AfD-Fraktion: Es war natürlich nicht alles schlecht im Kaiserreich – die Einführung der Pflicht zur Impfung gegen Pocken zum Beispiel rettet bis heute Leben.